Ist der Gay Pride ein nutzloses Karnevalstreiben?

14.07.2018

Heute endet mit der Politparade der CSD 2018 (Christopher Street Day), das deutsche Pendant zum Gay Pride, in München; eine Woche voller Veranstaltungen zu LGBT-Rechten und zur Geschichte der homosexuellen Befreiungsbewegung, die uns in fast 50 Jahren dazu brachte, Rechte zu bekommen die früher undenkbar waren. Allen voran das Recht zu Sein.

Nichts spaltet die LGBT + Welt mehr als der Gay Pride, keinem anderen Fest gelingt es, so die öffentliche Meinung zu den Rechten homosexueller Menschen (im Guten wie im Schlechten) zu gewinnen. Aber was wissen wir wirklich über diese Veranstaltung? Gar nichts, nach den Kommentaren vieler zu diesem Thema zu urteilen, sogar innerhalb der LGBT-Community.

Muss man sagen, dass der Gay Pride nicht nur der freudige Umzug ist, der ausgelassen durch die wichtigsten westlichen Städte zieht, sondern vor allem eine Zeit der Reflexion und des Gedenkens, des Kampfes und der Vorschläge, des Bewusstsmachens und der Weltoffenheit. Eine Woche voller Treffen, organisiert von den zahlreichen Vereinen, Unterstützungsgruppen und kulturellen Vereinigungen. Eine Chance zu verstehen und verstanden zu werden, in einer Welt, die der Vielfalt gegenüber zunehmend verschlossen ist. Die Parade ist nur die Spitze des Eisbergs.

Ich gebe zu, dass ich bis vor ein paar Jahren eine sehr kritische Haltung gegenüber der abschließenden Parade hatte, aber während ich weiterhin bestimmte Exzesse nicht teile ( die im Übrigen immer noch den einzelnen Personen zugeordnet werden müssen und nicht als Klischee einer ganzen sozialen Gruppe), habe ich meine Position dazu geändert, als ich aufhörte zu kritisieren und meinen Verstand zu öffnen versuchte, um zu verstehen. Es ist wahr, oft sind seltsame und ungewöhnliche Dinge beim Umzug zu sehen. Aber es gibt auch Zehntausende von "normalen" Menschen (unter der Annahme, dass die Normalität existiert), die sich an den Händen halten, die sich lieben, die einfach sie selbst sind. Die sich nicht verstellen, aus Angst vor Vorurteilen, die keine Angst davor haben, die Liebe ihrer Angehörigen zu verlieren. Die kämpfen, um nicht mehr "krank zu sein und geheilt werden zu müssen", sondern Menschen mit gleicher Würde wie andere. Leider legen die Massenmedien (besonders in Italien) seit Jahren den Akzent nur auf den transgressiven Aspekt der Parade. Die "religiösen" oder pseudo Organisationen bitten um die Vergebung Gottes und organisieren Gegenmärsche als "Wiedergutmachung des Schadens durch den Gay Pride", als ob wir von einem anderen Gott als dem ihren erschaffen worden seien. Unter anderem würde ich diese "Christen" gerne fragen, wo es geschrieben steht, dass Homosexualität falsch ist, wo Jesus, auf den sie sich nur allzu gerne berufen, ausdrücklich homosexuelle Menschen verurteilt hat. Diese Menschen, die Respekt verlangen ohne ihn zu geben, wollen auch denen, die nicht glauben, Regeln aufzwingen und sind dabei selbst so weit entfernt von den christlichen Werten der Akzeptanz und des Respekts.

Das sich Zuspitzen von sozialen Spannungen, die exponentielle Zunahme von homophober Gewalt (sowohl verbal als auch körperlich), die Eskalation von Aggressionen, Missverständnissen, Intoleranz, zusammen mit der Verschlimmerung der Situation von LGBT+-Rechten in der Welt, haben mich dazu veranlasst, die Wahrheit zu suchen und folglich meine Position an der Sache zu ändern. Vor allem die Situation in der Türkei, wo statt der toleranten und demokratischen, pro-europäischen Republik nun eine Diktatur herrscht, die jede Demonstration verbietet und Homosexuelle mit Schlägen und Gefängnis bestraft. All dies ist besorgniserregend und eine Alarmglocke, die für all jene läutet, die an ein ziviles Zusammenleben glauben. Bevor Erdogan seine dispotische Wende begann und die Türkei zurückführte ins dunkle Mittelalter der Rechte, organisierte die türkische LGBT+ Gemeinschaft großartige Demonstrationen, die denen der westlichen Länder in nichts nachstanden. Seit vier Jahren nun wird jeder Demonstrationsversuch mit einem Schlagstock gestoppt. Was wird verhindern, dass dies auch in Europa passiert, wo neue Despoten im Osten aufzutauchen scheinen und wo die Rechten weiterhin Zustimmung finden, unterstützt von einer reaktionären und bigotten Kirche? Was gerade passiert, hat meine Augen geöffnet für die Gefahr, die wir alle laufen, in einen neuen, brutalen Winter der Rechte zu stürzen. Die Geschichte zeigt uns, dass Rechte nicht unantastbar sind, nur weil sie gewährt wurden. Die Rechte können von Regierungen widerrufen werden, die ihre Zustimmung auf Angst, Misstrauen und Ablehnung von Vielfalt stützen. Wir müssen wachsam bleiben.

Darum ist es wichtig, den Gay Pride zu verteidigen und zu verstehen, darum ist es wichtig, dabei zu sein und zusammen zu stehen und Vorurteile, Spaltungen, Ängste abzulegen. Ohne sich zu verstecken, ohne sich zu verstellen, ohne Angst. Vor was denn verstecken? Vor dem Bewusstsein, "anders" zu sein? Aber anders als wer? Vielleicht habe ich, weil ich homosexuell bin, mehr oder weniger als meine heterosexuellen Brüder? Es scheint mir jedoch, dass auch ich blute, leide, atme, Schmerz fühle und sterbe wie alle anderen auch. Also, wofür soll ich mich schämen? Muss ich die Verurteilung eines Buches fürchten, das von denen geschrieben wurde, die es nicht wissen, in einer Zeit, in der es absurde Verbote gab und die Homosexualität unter anderem niemals verurteilt? Oder sollte ich mich als Bedrohung für "traditionelle Familien" fühlen, so als würde die Gewährung von Rechten den Schutz eher ersetzen als erweitern.

Gay Pride wurde ins Leben gerufen, um Stellung zu beziehen, als Demonstration, dass wir existieren. Es spielt keine Rolle, ob hier und da ein Arsch oder eine Titte zu sehen sind, ob jemand dabei ist, der Leder tragen oder Hand in Hand mit seinem Partner gehen möchte. Unser Fest ist für alle offen, eine Huldigung an die Freiheit, die wir mit allen Mitteln friedlich und gewaltfrei verteidigen müssen. Im Gegenteil, ich würde hinzufügen, dass es zum Symbol werden sollte, als Gegensatz zu dem lobotomierenden Grau der Gesellschaft, die uns katalogisieren, aushöhlen, uns gleich machen will. Gegen das Einheitsdenken, die Vermassung, die Kommerzialisierung. Wir müssen alle zusammen kämpfen, ob homosexuell oder heterosexuell, auf dem langen Weg der Rechte, damit das Licht der Freiheit nicht ausgelöscht wird.